BAG Urteil v. - 10 AZR 210/19

Mehrarbeitszuschläge - geleistete Stunden - Urlaub - gesetzeskonforme Tarifauslegung - Manteltarifvertrag für Zeitarbeit

Leitsatz

Eine tarifvertragliche Regelung, nach der für die Berechnung eines Schwellenwerts, ab dem Mehrarbeitszuschläge zu zahlen sind, Arbeitszeit, in der der Arbeitnehmer bezahlten Jahresurlaub in Anspruch genommenen hat, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt wird, verstößt gegen § 1 BUrlG in seinem unionsrechtskonformen Verständnis.

Gesetze: § 1 BUrlG, § 13 Abs 1 S 1 BUrlG, Art 31 Abs 2 EUGrdRCh, Art 7 EGRL 88/2003, § 1 TVG

Instanzenzug: Az: 10 Ca 4180/17 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 13 Sa 589/18 Urteilvorgehend Az: 10 AZR 210/19 (A) EuGH-Vorlagevorgehend Az: C-514/20 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Mehrarbeitszuschläge.

2Der Kläger war im Streitzeitraum bei der Beklagten als Leiharbeitnehmer in Vollzeit mit einem Bruttostundenlohn von 12,18 Euro beschäftigt. Die Beklagte führt ein Unternehmen der Arbeitnehmerüberlassung. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien galt aufgrund beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit in der Fassung vom (MTV).

3Der MTV lautet auszugsweise:

4Im Monat August 2017, auf den 23 Arbeitstage entfielen, arbeitete der Kläger 121,75 Stunden und nahm zehn Tage Erholungsurlaub, für die die Beklagte 84,7 Stunden abrechnete und vergütete.

5Der Kläger hat die Auffassung vertreten, in die Berechnung des Schwellenwerts für Mehrarbeitszuschläge müssten alle in einem Monat abgerechneten Stunden, also auch solche für seinen genommenen Urlaub, einbezogen werden. Für den Monat August 2017 sei daher von insgesamt 206,45 geleisteten Stunden auszugehen. Damit sei die Schwelle von 184 geleisteten Stunden überschritten, sodass er Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge in Höhe von 72,32 Euro habe.

6Der Kläger hat - soweit für die Revision von Interesse - zuletzt beantragt,

7Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, dass angesichts des klaren Wortlauts der tariflichen Regelung bei der Bemessung von Mehrarbeitszuschlägen nur tatsächlich gearbeitete Stunden, nicht aber Urlaubszeiten einzubeziehen seien.

8Das Arbeitsgericht hat die Klage, die auch auf die Zahlung einer Verzugspauschale in Höhe von 40,00 Euro gerichtet war, insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die vom Arbeitsgericht zugelassene Berufung zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren - beschränkt auf die Mehrarbeitszuschläge - weiter.

9Der Senat hat mit Beschluss vom (- 10 AZR 210/19 (A) -) das Revisionsverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um eine Vorabentscheidung gebeten, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte (GRC) iVm. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG einer tariflichen Regelung wie der vorliegenden entgegensteht. Hierzu ist das - C-514/20 - [Koch Personaldienstleistungen]) ergangen.

Gründe

10Die zulässige Revision des Klägers hat überwiegend Erfolg.

11I. Die zulässige Klage ist weitgehend begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zahlung von Mehrarbeitszuschlägen für den Monat August 2017 in Höhe von 68,36 Euro brutto nach § 4.1.2. MTV, da er in diesem Monat zuschlagsauslösende Mehrarbeit geleistet hat. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil insoweit zu Unrecht zurückgewiesen. In Höhe von 3,96 Euro brutto ist die Klage hingegen unbegründet.

121. Nach § 4.1.2. MTV sind Mehrarbeitszuschläge für Zeiten zu zahlen, die über eine bestimmte Anzahl geleisteter Stunden hinausgehen. Die tarifvertragliche Regelung ist so zu verstehen, dass nicht nur die tatsächlich geleisteten Stunden bei der Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen, sondern auch zu vergütende Urlaubsstunden zu berücksichtigen sind. Das ergibt eine gesetzeskonforme Auslegung der Tarifnorm in Übereinstimmung mit § 1 BUrlG in seinem unionsrechtskonformen Verständnis.

13a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags, die in der Revisionsinstanz in vollem Umfang überprüfbar ist, folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (vgl. zu den Grundsätzen der Tarifauslegung die st. Rspr., zB  - Rn. 20; - 4 AZR 365/20 - Rn. 21 mwN). Außerdem sind Tarifnormen, soweit sie dies zulassen, grundsätzlich so auszulegen, dass sie nicht im Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand haben (Gebot der gesetzeskonformen Auslegung; st. Rspr., vgl.  - Rn. 29 mwN). Gesetze sind wiederum - soweit Unionsrecht umgesetzt wird - unionsrechtskonform auszulegen, wenn dies möglich ist (st. Rspr., vgl. etwa  (A) - Rn. 25 mwN; - 9 AZR 214/19 - Rn. 16, BAGE 172, 55; - 10 AZR 210/19 (A) - Rn. 37, BAGE 171, 114). Die richtlinienkonforme Auslegung eines nationalen Gesetzes kann sich demnach auf die Auslegung eines Tarifvertrags auswirken.

14b) Ausgehend vom Wortlaut des § 4.1.2. MTV sind unter „geleistete Stunden“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Stunden zu verstehen, in denen eine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht wird. Urlaubszeiten, in denen nicht gearbeitet wird, sind dagegen nicht vom Wortsinn erfasst (vgl.  (A) - Rn. 24, BAGE 171, 114; - 5 AZR 389/07 - Rn. 14). Allerdings ist der Wortlaut nicht eindeutig, insoweit nicht abschließend zu verstehen und der Begriff „geleistete Stunden“ von den Tarifvertragsparteien nicht selbst definiert. Unter den Begriff der „geleisteten Stunden“ im vorliegenden Tarifsinn können vielmehr auch Stunden fallen, die ein Arbeitnehmer wegen Urlaubs vergütet erhält. Denn der tatsächlichen Erbringung der Arbeitsleistung kann es gleichstehen, wenn die Leistung von Stunden nur deshalb nicht erfolgt, weil der Arbeitnehmer unter Fortzahlung seines Entgelts wegen Urlaubs von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt ist (vgl. zu ähnlichen Formulierungen  - Rn. 31 ff.; - 6 AZR 576/17 - Rn. 27; - 10 AZR 152/09 - Rn. 22 mwN;  -). Zwar deuten Sinn und Zweck der tariflichen Bestimmung und deren Gesamtzusammenhang darauf hin, dass nur tatsächlich geleistete Stunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge berücksichtigt werden sollten (vgl.  (A) - Rn. 25 ff., aaO). Ausgeschlossen ist ein anderes Verständnis aber auch danach nicht (ebenso Weidl GPR 2022, 100, 103).

15c) Nur ein Verständnis der Tarifnorm, wonach genommene Urlaubsstunden als „geleistete Stunden“ nach § 4.1.2. MTV mitzählen, ist im Hinblick auf § 1 BUrlG gesetzeskonform.

16aa) Bestimmte Anreize, auf den gesetzlichen Mindesturlaub zu verzichten, können gegen § 1 BUrlG verstoßen. Arbeitnehmer dürfen nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen davon abgehalten werden, ihren Anspruch auf Erholungsurlaub geltend zu machen. Ein mit § 1 BUrlG nicht zu vereinbarender Anreiz, auf Urlaub zu verzichten, kann nach nationalem Recht auch in Tarifverträgen nicht wirksam vereinbart werden. Die Öffnungsklausel in § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG, nach der in Tarifverträgen grundsätzlich von den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes abgewichen werden kann, gilt nicht für § 1 BUrlG( (A) - Rn. 36, BAGE 171, 114; - 6 AZR 576/17 - Rn. 27; - 9 AZR 10/17 - Rn. 33).

17bb) § 1 BUrlG ist seinerseits unionsrechtskonform nach Art. 31 Abs. 2 GRC und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG auszulegen. Die Bestimmung des § 1 BUrlG, wonach jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub hat, entspricht den Regelungen in Art. 31 Abs. 2 GRC und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG( (A) -Rn. 37 mwN, BAGE 171, 114). Zur Erfüllung des Anspruchs auf den gesetzlichen Urlaub reicht die Entbindung von der Arbeitsverpflichtung allein nicht aus, sondern die Zeit der Freistellung von der Arbeit muss „bezahlt“ sein ( - Rn. 32; - 9 AZR 455/13 - Rn. 21, BAGE 150, 355).

18cc) In seinem Urteil vom (- C-514/20 - [Koch Personaldienstleistungen]) hat der EuGH, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung von Richtlinien zugewiesen ist, festgestellt, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG im Licht von Art. 31 Abs. 2 GRC dahin auszulegen sei, dass er einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegen stehe, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden. Er hat zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG ausgeführt, dass das Recht auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union - verbürgt in Art. 31 Abs. 2 GRC - anzusehen sei, von dem nicht abgewichen werden dürfe. Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub solle es dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Die Schaffung eines Anreizes, auf den Erholungsurlaub zu verzichten, sei mit den Zielen von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG unvereinbar. Das gelte für jede Praxis eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten könne, den Jahresurlaub zu nehmen. Der in § 4.1.2. MTV angelegte Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden, die für das Überschreiten einer bestimmten Schwelle, ab der Mehrarbeitszuschläge geschuldet sind, zu berücksichtigen sind, sei allerdings geeignet, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, Urlaub zu nehmen. Denn in dem Monat, in dem er Urlaub nehme, könne ein Mehrarbeitszuschlag trotz geleisteter Überstunden deshalb entfallen, weil die Urlaubsstunden bei der Berechnung des Schwellenwerts nicht berücksichtigt würden. Ein solcher Mechanismus sei nicht mit dem in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG vorgesehenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vereinbar.

19dd) Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben, an die der Senat nach Art. 267 AEUV gebunden ist, ist § 4.1.2. MTV gesetzeskonform in Übereinstimmung mit § 1 BUrlG in seinem unionsrechtskonformen Verständnis dahin auszulegen, dass genommene und zu vergütende Urlaubsstunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge zu berücksichtigen sind. In dieser Auslegung weicht § 4.1.2. MTV nicht von den für den gesetzlichen Mindesturlaub gegebenen gesetzlichen Vorgaben in § 1 BUrlG in seiner richtlinienkonformen Auslegung ab.

20d) Eine andere Auslegung würde dazu führen, dass ein Mechanismus gegeben wäre, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen, und somit ein unzulässiger finanzieller Anreiz, auf den - gesetzlichen - Mindesturlaub zu verzichten. Dies wäre immer dann der Fall, wenn ein Arbeitnehmer während eines Kalendermonats Mehrarbeit im Tarifsinn leistet und im selben Monat Urlaub nimmt. Mehrarbeitszuschläge könnten sich verringern oder vollständig entfallen, weil der maßgebende Schwellenwert für Mehrarbeitszuschläge in geringerem Umfang oder gar nicht mehr überschritten würde. In Anspruch genommener Urlaub könnte in Bezug auf tarifvertragliche Mehrarbeitszuschläge mit einem finanziellen Nachteil einhergehen, wenn mehr als 40 Stunden pro Woche gearbeitet wurden und bei Weiterarbeit statt Urlaubs die jeweils maßgebliche Berechnungsschwelle überschritten würde. Im Fall des Klägers würde ein solches Verständnis von § 4.1.2. MTV auch tatsächlich dazu führen, dass Mehrarbeitszuschläge im Monat August 2017 nicht zu zahlen wären. Ohne Berücksichtigung der bezahlten Urlaubsstunden hätte der Kläger die Schwelle für Mehrarbeitszuschläge nicht überschritten.

212. Danach steht dem Kläger für den Monat August 2017 ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge in Höhe von 68,36 Euro brutto nebst Zinsen zu. Im Übrigen sind die Klage und insoweit auch die Revision unbegründet.

22a) Im Monat August 2017 erbrachte der Kläger 121,75 Stunden Arbeitsleistungen und hat unstreitig 84,7 Stunden Urlaub vergütet erhalten. Zusammen ergeben sich insgesamt 206,45 Stunden, die - wie dargelegt - für die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge zugrunde zu legen sind. Der Monat August 2017 hatte 23 Arbeitstage, sodass nach § 4.1.2. MTV Mehrarbeitszuschläge für über 184 Stunden hinausgehende Zeiten, somit für 22,45 Stunden zu zahlen sind. Daraus errechnet sich bei einem Stundensatz von 12,18 Euro brutto und einem Zuschlag von 25 % ein Mehrarbeitszuschlag von 68,36 Euro brutto (22,45 Stunden x 12,18 Euro x 25 %). Soweit der Kläger weitere 3,96 Euro brutto an Mehrarbeitszuschlägen begehrt, fehlt es hingegen an einer Anspruchsgrundlage.

23b) Der Anspruch auf Zinsen ab dem folgt aus § 286 Abs. 1 Satz 2, § 288 Abs. 1, § 291 BGB.

24II. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Vorinstanzen auf § 92 Abs. 1 Satz 1, § 97 ZPO und hinsichtlich des Revisionsverfahrens auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:161122.U.10AZR210.19.0

Fundstelle(n):
BB 2023 S. 371 Nr. 7
DB 2023 S. 1352 Nr. 22
DB 2023 S. 1352 Nr. 22
DB 2023 S. 526 Nr. 9
DStR 2022 S. 13 Nr. 47
GmbHR 2023 S. 26 Nr. 2
NJW 2023 S. 10 Nr. 8
RIW 2023 S. 540 Nr. 8
ZIP 2022 S. 5 Nr. 47
ZIP 2023 S. 662 Nr. 12
EAAAJ-31502