BAG Urteil v. - 6 AZR 210/22

AVR Caritas - Bereitschaftsdienst - Arbeitsunfähigkeit

Leitsatz

§ 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG (juris: EntgFG) gestattet eine von den Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes zu Ungunsten des Arbeitnehmers abweichende Regelung nur durch Tarifvertrag. Auf dem sog. Dritten Weg zustande gekommene Arbeitsvertragsrichtlinien sind von dieser Öffnungsklausel nicht erfasst.

Gesetze: § 4 Abs 4 S 1 EntgFG, § 12a DCVArbVtrRL, § 611a Abs 2 BGB, § 2 Abs 1 EntgFG, § 3 Abs 1 EntgFG, Art 3 Abs 1 GG, Art 137 Abs 3 WRV, Art 140 GG, Art 103 Abs 1 GG, Anl 14 § 2 DCVArbVtrRL, Anl 31 § 7 Abs 6 DCVArbVtrRL, Anl 31 § 9 DCVArbVtrRL

Instanzenzug: ArbG Bocholt Az: 4 Ca 250/21 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 18 Sa 1158/21 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Stundengutschriften auf einem Arbeitszeitkonto für Bereitschaftsdienste, die der Kläger aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht geleistet hat.

2Der Kläger ist seit 1996 als Anästhesiepfleger bei der Beklagten beschäftigt. Im zwischen den Parteien geschlossenen Arbeitsvertrag ist auf die Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes (AVR, im Folgenden AVR Caritas) in ihrer jeweils geltenden Fassung Bezug genommen. Die für den Streitfall maßgeblichen Bestimmungen der AVR Caritas lauten auszugsweise wie folgt:

3In der Vergangenheit leistete der Kläger monatlich mindestens zweimal Bereitschaftsdienst. Er entschied sich gemäß § 7 Abs. 6 Satz 1 und Satz 2 der Anlage 31 AVR Caritas stets für die Gewährung von Freizeitausgleich statt der Zahlung des Bereitschaftsdienstentgelts.

4Der Kläger war am im Umfang von 24 Stunden sowie am und im Umfang von jeweils 15,5 Stunden in den monatlich im Voraus erstellten Dienstplänen zur Leistung von Bereitschaftsdiensten der Stufe III eingeteilt. Diese wären gemäß § 7 Abs. 1 der Anlage 31 AVR Caritas zu 90 % als Arbeitszeit zu werten gewesen. Diese Dienste leistete er nicht, da er arbeitsunfähig erkrankte. Die Beklagte schrieb dem Arbeitszeitkonto des Klägers für diese Bereitschaftsdienste keine Stunden gut. Sie zahlte ihm für die krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienste seine verstetigten Dienstbezüge sowie den Aufschlag nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR Caritas. Bei der Berechnung des Aufschlags berücksichtigte die Beklagte jeweils die in den letzten drei Monaten vor dem krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienst gezahlten Aufschläge und Zeitzuschläge sowie Rufbereitschafts- und Überstundenvergütungen, nicht jedoch die durch Freizeit ausgeglichenen, im Referenzzeitraum vom Kläger geleisteten Bereitschaftsdienste.

5Der Kläger forderte die Beklagte mehrfach erfolglos auf, für die krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienste aus Januar und März 2020 Gutschriften im Umfang von 21,6 (24 Stunden x 90 %) und 13,95 Stunden (15,5 Stunden x 90 %) zu erteilen. Dieses Begehren hat er mit seiner Klage weiterverfolgt, die er später im Hinblick auf den Bereitschaftsdienst aus Mai 2021 um weitere 13,95 Stunden erweitert hat.

6Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er könne nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz für die krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienste Vergütung in dem Umfang fordern, wie diese als Arbeitszeit gewertet würden. Er sei so zu stellen, wie wenn er gearbeitet hätte. Diese Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes seien zwingend und eine Abweichung gemäß § 4 Abs. 4 EFZG nur durch Tarifvertrag, nicht aber durch die AVR Caritas zulässig. Arbeitsvertragsrichtlinien seien kein Tarifvertrag in diesem Sinn. Bei den Bereitschaftsdiensten handele es sich auch nicht um Überstunden iSd. § 4 Abs. 1a EFZG. Er habe diese regelmäßig geleistet.

7Der Kläger hat seine Klage erstinstanzlich im Umfang von acht Stunden für den zurückgenommen, weil die Beklagte ihm insoweit Freizeitausgleich gewährte. Aus dem gleichen Grund hat er mit seiner Berufung die vom Arbeitsgericht abgewiesene Stundengutschrift für den nur noch im Umfang von 5,95 Stunden weiterverfolgt.

8Zuletzt hat der Kläger daher nur noch beantragt,

9Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

10Sie hat die Auffassung vertreten, sie habe die dem Kläger nach den AVR Caritas zustehenden Krankenbezüge ordnungsgemäß erfüllt. Die über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleisteten Bereitschaftsdienste seien in dem Aufschlag nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR Caritas enthalten. Soweit die AVR Caritas von den Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes abwichen, sei dies nach § 4 Abs. 4 EFZG zulässig. Arbeitsvertragsrichtlinien seien Tarifverträge iSd. Norm. Jedenfalls sei diese analog auf die AVR Caritas anzuwenden. Sähe man dies anders, wäre das kirchliche Selbstbestimmungsrecht verletzt. Aber auch nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz stünden dem Kläger keine weiteren Stundengutschriften zu. Das fortzuzahlende Entgelt bestimme sich nach der regelmäßigen Arbeitszeit, wozu die Bereitschaftsdienste nicht zählten.

11Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr im Umfang der Berufung des Klägers stattgegeben und die Beklagte zur Gutschrift von 33,5 Stunden verurteilt. Mit ihrer Revision möchte die Beklagte die Wiederherstellung des klageabweisenden Urteils des Arbeitsgerichts erreichen.

Gründe

12Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts (§ 562 Abs. 1 ZPO). Es steht jedoch noch nicht fest, ob die zulässige Klage begründet ist. Zwar schuldet die Beklagte dem Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die wegen seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht geleisteten Bereitschaftsdienste am , und . Mangels ausreichender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann der Senat aber nicht abschließend entscheiden, ob diese - wie vom Kläger beantragt - in Form einer Stundengutschrift auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers zu erfolgen hat. Daher ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).

13I. Als Anspruchsgrundlage für das Begehren, bestimmte Zeiten auf einem Arbeitszeitkonto „gutzuschreiben“, kommt § 611a Abs. 2 BGB in Verbindung mit gesetzlichen, tariflichen, betrieblichen oder einzelvertraglichen Regelungen in Betracht (vgl.  - Rn. 10; vgl. auch  - Rn. 27, BAGE 141, 88; - 5 AZR 766/09 - Rn. 13 ff., BAGE 136, 152). Ein Arbeitszeitkonto hält fest, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitnehmer seine Hauptleistungspflicht nach § 611a Abs. 1 Satz 1 BGB erbracht hat oder aufgrund eines Entgeltfortzahlungstatbestands (zB § 615 Satz 1 und Satz 3, § 616 Satz 1 BGB, § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 EFZG, § 37 Abs. 2 BetrVG) nicht erbringen musste und deshalb Vergütung beanspruchen kann bzw. in welchem Umfang er noch Arbeitsleistung für die vereinbarte und gezahlte Vergütung erbringen muss. Die nachträgliche Gutschrift auf einem Arbeitszeitkonto setzt voraus, dass der Arbeitnehmer Arbeitsstunden erbrachte oder aufgrund eines Entgeltfortzahlungstatbestands nicht erbringen musste und diese bisher nicht vergütet und nicht in das Arbeitszeitkonto eingestellt wurden (vgl.  - Rn. 19; - 7 AZR 491/19 - Rn. 24; - 7 AZR 224/15 - Rn. 20 mwN, BAGE 158, 31). Dabei setzt eine Gutschrift voraus, dass die dem Arbeitszeitkonto zugrundeliegenden Regelungen die Umwandlung in und die Buchung der betreffenden Vergütungsbestandteile als Zeit auf diesem überhaupt zulassen (vgl.  - Rn. 16; - 5 AZR 676/11 - Rn. 20, 27, aaO; - 5 AZR 328/07 - Rn. 10 ff.; siehe auch  - Rn. 14 zum Abbau eines Arbeitszeitkontos). Das gilt ebenso für die Buchung von Zeitzuschlägen oder von Rufbereitschafts- bzw. Bereitschaftsdienstentgelten als Zeitguthaben auf einem Arbeitszeitkonto.

14II. Die Klage ist nicht bereits deshalb unbegründet, weil ein Vergütungsanspruch für die krankheitsbedingt nicht geleisteten Bereitschaftsdienste nicht entstanden ist. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Kläger den Anspruch auf die Gegenleistung für diese Dienste, zu denen er eingeteilt war, gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 EFZG behalten hat.

151. Wird ein Arbeitnehmer unverschuldet an der Erbringung seiner Arbeitsleistung durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit verhindert (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG), ist das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt fortzuzahlen (§ 4 Abs. 1 EFZG). Dies stellt eine Regelung des Leistungsstörungsrechts dar. Durch die Vorschriften zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall behält der Arbeitnehmer als Ausnahme zu dem Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“ (§ 275 Abs. 1, § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB) seinen Anspruch auf die Gegenleistung, dh. sein voller (arbeits-)vertraglicher Vergütungsanspruch einschließlich etwaiger Zuschläge für die durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit nicht erbrachte Arbeitsleistung bleibt grundsätzlich aufrechterhalten (vgl.  - Rn. 26; - 5 AZR 703/15 - Rn. 14, BAGE 156, 150; - 5 AZR 89/08 - Rn. 11 f.; - 5 AZR 68/04 - zu II 4 a der Gründe; - 5 AZR 558/03 - zu I 2 b der Gründe; MHdB ArbR/Greiner 5. Aufl. Bd. 1 § 79 Rn. 2, 11 f.). Im Fall eines Zuschlags gilt dies aber nicht, wenn die Zuschlagsregelung selbst die tatsächliche Arbeitsleistung für die Zahlung des Zuschlags voraussetzt oder tarifliche Entgeltfortzahlungsbestimmungen gemäß § 4 Abs. 4 EFZG diesen Entgeltbestandteil ausklammern (vgl.  - Rn. 11; - 5 AZR 68/04 - zu II 4 a und b der Gründe).

162. § 4 Abs. 1 EFZG legt der Entgeltfortzahlung ein modifiziertes Entgeltausfallprinzip zugrunde. Maßgebend ist allein die individuelle regelmäßige Arbeitszeit des erkrankten Arbeitnehmers. Das Gesetz stellt dem Grundsatz nach entscheidend darauf ab, welche Arbeitsleistung aufgrund der Arbeitsunfähigkeit tatsächlich ausgefallen ist. Es kommt darauf an, in welchem Umfang der Arbeitnehmer gearbeitet hätte, wenn er arbeitsfähig gewesen wäre (vgl.  - Rn. 16; - 5 AZR 592/00 - zu II 1 a und b der Gründe; - 5 AZR 500/00 - zu I 2 a und b der Gründe). Zur Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts ist die Zahl der durch die Arbeitsunfähigkeit ausfallenden Arbeitsstunden (Zeitfaktor) mit dem hierfür jeweils geschuldeten Arbeitsentgelt (Geldfaktor) zu multiplizieren (vgl.  - Rn. 17; - 5 AZR 592/00 - zu II 1 c der Gründe; - 5 AZR 500/00 - zu I 2 c der Gründe).

173. Nach der gesetzlichen Regelung hat die Beklagte für die streitgegenständlichen, krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienste Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu leisten.

18a) Diese Bereitschaftsdienste standen aufgrund der monatlich im Voraus erfolgten Dienstplanung im Vorhinein im Einzelnen fest. Es handelt sich bei ihnen unabhängig von der Frage, in welchem Umfang Bereitschaftsdienste regelmäßig anfielen, um tatsächlich ausgefallene Arbeitszeit, die im Rahmen des Zeitfaktors zu berücksichtigen ist (vgl.  - zu I 2 b bb der Gründe, BAGE 100, 256;  - zu I 1 der Gründe;  - zu A II 1 b und c bb der Gründe mwN für den Fall der Abrufarbeit; HWK/Vogelsang 10. Aufl. § 4 EFZG Rn. 8; MHdB ArbR/Greiner 5. Aufl. Bd. 1 § 81 Rn. 22 mwN; Hofer ZTR 2017, 705 unter 5.2). Die im Dienstplan für die streitgegenständlichen Tage ausgewiesenen Bereitschaftsdienste waren Teil der abgeforderten und geschuldeten Arbeitsleistung des Klägers, an deren Erbringung er unverschuldet durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit verhindert war. Wäre der Kläger arbeitsfähig gewesen, hätte er die fraglichen Bereitschaftsdienste geleistet.

19b) Entgegen der Annahme der Beklagten waren die wegen der Arbeitsunfähigkeit ausgefallenen Bereitschaftsdienste Teil der regelmäßigen Arbeitszeit des Klägers, für die das Arbeitsentgelt fortzuzahlen ist, und nicht Entgelt für „Überstunden“ iSd. § 4 Abs. 1a EFZG, das nicht fortzuzahlen wäre. Überstunden werden wegen bestimmter besonderer Umstände vorübergehend zusätzlich geleistet. Das setzt voraus, dass die individuelle regelmäßige Arbeitszeit des Arbeitnehmers überschritten wird (vgl.  - Rn. 16; - 5 AZR 500/00 - zu I 3 b cc der Gründe). Die streitgegenständlichen Bereitschaftsdienste waren dienstplanmäßig festgelegt. Das Landesarbeitsgericht hat nicht festgestellt, dass der Kläger diese wegen besonderer Umstände zusätzlich zu den im Dienstplan festgelegten Diensten geleistet hat (vgl. dazu  - zu I 2 der Gründe; Hofer ZTR 2017, 705 unter 5.2; Knorr/Krasney/v. Creytz Entgeltfortzahlung - Krankengeld - Mutterschaftsgeld § 4 EFZG Stand Januar 2019 Rn. 30b; vgl. für regelmäßige Überstunden  - zu I 3 c der Gründe). Ohnehin können nach den AVR Caritas dienstplanmäßig festgesetzte Arbeitsstunden keine Überstunden sein (vgl. § 4 Abs. 7 der Anlage 31 AVR Caritas).

20c) Wären die Bereitschaftsdienste nicht wegen der Arbeitsunfähigkeit des Klägers ausgefallen, hätte er hierfür das Bereitschaftsdienstentgelt gemäß § 7 der Anlage 31 AVR Caritas erhalten, wobei in seinem Fall die Bereitschaftsdienstzeiten zu 90 % als Arbeitszeit zu werten gewesen wären.

214. Die AVR Caritas weichen nicht in zulässiger Weise von den gesetzlichen Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes ab.

22a) Die Regelungen zur Entgeltfortzahlung in § 12a AVR Caritas iVm. Abschnitt XII Abs. a Satz 1, Abs. b Satz 1 der Anlage 1 AVR Caritas iVm. § 2 der Anlage 14 AVR Caritas wirken nicht ausschließlich zu Gunsten der Arbeitnehmer. Jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer im Referenzzeitraum des § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR Caritas ausschließlich Bereitschaftsdienste geleistet hat, erhält er pro Tag der Arbeitsunfähigkeit nicht das Entgelt bzw. Freizeitäquivalent für die volle ausgefallene Arbeitszeit, sondern nur einen Bruchteil davon.

23b) Die AVR Caritas werden von der Öffnungsklausel in § 4 Abs. 4 EFZG nicht erfasst. Die zu Ungunsten der Arbeitnehmer von den gesetzlichen Anforderungen abweichende Bemessungsgrundlage in § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR Caritas mit ihrer Vermischung des gesetzlichen Prinzips des modifizierten Ausfallprinzips mit dem Referenzprinzip ist daher unwirksam. Die auf dem sog. Dritten Weg zustande gekommenen Arbeitsvertragsrichtlinien sind keine Tarifverträge iSd. gesetzlichen Öffnungsklausel (ebenso HWK/Vogelsang 10. Aufl. § 4 EFZG Rn. 39; Malkmus in Feichtinger/Malkmus Entgeltfortzahlungsrecht 2. Aufl. § 4 EFZG Rn. 184; zu § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG  - Rn. 16 ff., BAGE 130, 146; aA Richardi KirchenArbR 8. Aufl. § 8 Rn. 8, § 15 Rn. 21; kritisch auch v. Tiling ZTR 2009, 458).

24aa) Bereits der eindeutige Gesetzeswortlaut spricht dafür, dass Arbeitsvertragsrichtlinien von der Öffnungsklausel des § 4 Abs. 4 EFZG nicht erfasst werden. Diese lässt die Festlegung einer von § 4 Abs. 1, Abs. 1a und Abs. 3 EFZG abweichenden Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts nur durch Tarifvertrag zu. Auf dem sog. Dritten Weg zustande gekommene kirchliche Arbeitsrechtsregelungen sind keine Tarifverträge iSd. § 1 Abs. 1 TVG. Ihnen fehlt deren normative Wirkung (vgl.  - Rn. 18, 20; - 6 AZR 308/17 - Rn. 23, BAGE 163, 56; HWK/Rennpferdt 10. Aufl. § 22 TzBfG Rn. 4; ähnlich  - Rn. 21; - 6 AZR 377/20 - Rn. 24; - 10 AZR 322/19 - Rn. 19, BAGE 175, 367). Das gilt ungeachtet dessen, dass bei der Inhaltskontrolle kirchlicher Arbeitsvertragsrichtlinien (§§ 305 ff. BGB) als im Arbeitsrecht geltende Besonderheit (§ 310 Abs. 4 Satz 2 BGB) ihr Zustandekommen im Verfahren des Dritten Wegs angemessen zu berücksichtigen ist (vgl.  - Rn. 19). Sie sind aus diesem Grund zwar nur daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen die Verfassung, gegen anderes höherrangiges zwingendes Recht oder die guten Sitten verstoßen ( - Rn. 24; - 6 AZR 465/18 - Rn. 33, BAGE 168, 254; vgl. auch  - Rn. 28). Dieser im Ergebnis an Tarifverträge angeglichene Kontrollmaßstab hat aber keine Veränderung der Rechtsnormqualität der kirchlichen Regelungen zur Folge ( - Rn. 51, aaO).

25bb) Dieser Unterschied der Rechtsnormqualität von Arbeitsvertragsrichtlinien und Tarifverträgen ist dem Gesetzgeber offenkundig bekannt. Will er eine Regelungsmaterie auch für Kirchen und öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften dispositiv ausgestalten, bringt er das dadurch zum Ausdruck, dass er diese bzw. deren Regelungswerke - wie in § 7 Abs. 4 ArbZG, § 21a Abs. 3 JArbSchG, § 3 Abs. 1 Nr. 1 AltersteilzeitG, § 22 TzBfG (dazu HWK/Rennpferdt 10. Aufl. TzBfG § 22 Rn. 1, 4) oder § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 15, Abs. 4 NachwG (vgl. noch zu § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG aF  - Rn. 49 ff., BAGE 168, 254) geschehen - ausdrücklich benennt. Tut er dies hingegen wie im Bereich der Entgeltfortzahlung nicht, folgt daraus im Umkehrschluss, dass er eine Abweichung durch kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gerade nicht ermöglichen, sondern eine solche vielmehr bewusst auf die ausdrücklich genannten Normgeber beschränken will.

26Dem steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber die Aufnahme der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen in § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 15 NachwG (§ 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG aF) in der Gesetzesbegründung als „Klarstellung“ bezeichnet hat (BT-Drs. 20/1636 S. 27). Daraus folgt entgegen der Annahme der Revision nicht, dass der Gesetzgeber generell kirchliche Arbeitsrechtsregelungen Tarifverträgen gleichsetzen will. Dieser hat vielmehr lediglich für den Geltungsbereich des Nachweisgesetzes auf die zu dieser ergangenen Entscheidung des Senats vom (- 6 AZR 465/18 - BAGE 168, 254) reagiert, die im Gesetz bestehende Lücke erkannt und nur insoweit und ausschließlich für die Zukunft eindeutig geregelt („klargestellt“), dass - anders als bisher - auch kirchliche Arbeitsrechtsregelungen dieser Norm unterfallen sollen. Dies wird dadurch bestätigt, dass der Gesetzgeber Arbeitsvertragsrichtlinien im Unterschied zu Tarifverträgen nicht von der AGB-Kontrolle ausgenommen, sondern mit § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB lediglich die Möglichkeit eröffnet hat, die Besonderheiten des Dritten Wegs bei der AGB-Kontrolle zu berücksichtigen (vgl.  - Rn. 18 ff.). Er hat also Arbeitsvertragsrichtlinien gerade nicht mit Tarifverträgen gleichgestellt.

27c) Da aus den genannten Erwägungen § 4 Abs. 4 EFZG als bewusst abschließende Regelung einzuordnen ist, scheidet entgegen der Auffassung der Revision jedenfalls mangels unbewusster Regelungslücke deren analoge Anwendung auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen aus.

28d) Die auf Tarifverträge beschränkte Öffnungsklausel in § 4 Abs. 4 EFZG verletzt die Beklagte als eine den AVR Caritas unterfallende kirchliche Einrichtung entgegen der Annahme der Revision nicht in ihren verfassungsrechtlichen Rechten.

29aa) Das Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrecht der Kirche (Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV) steht zwar nicht nur dieser selbst entsprechend ihrer rechtlichen Verfasstheit, sondern allen ihr in bestimmter Weise zugeordneten Institutionen, Gesellschaften, Organisationen und Einrichtungen, wenn und soweit sie nach dem glaubensdefinierten Selbstverständnis der Kirche ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, Auftrag und Sendung der Kirche wahrzunehmen und zu erfüllen ( - Rn. 91, 102, BVerfGE 137, 273;  - zu II 2 a der Gründe, BAGE 66, 314), und damit auch der Beklagten zu. Es beinhaltet das Recht der Kirchen, sich selbstbestimmt dafür zu entscheiden, die Dienstverhältnisse ihrer Beschäftigten inhaltlich durch Arbeitsvertragsrichtlinien auszugestalten (vgl.  - Rn. 29, BAGE 130, 146). Damit korrespondiert die Verpflichtung der Gerichte, unter Achtung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts den Arbeitsvertragsrichtlinien zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht geht aber nicht so weit, dass eine Ausklammerung aus der staatlichen Rechtsordnung im Sinne rechtsfreier Räume anzunehmen wäre. Die Verfassungsgarantie begründet im Gegenteil eine das kirchliche Selbstbestimmungsrecht respektierende Sonderstellung innerhalb der staatlichen Rechtsordnung (vgl.  - Rn. 4). Bedienen sich die Kirchen jedermann offenstehender privatautonomer Gestaltungsformen, unterliegen sie daher unter Berücksichtigung ihres Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrechts den zwingenden Vorgaben staatlichen Arbeitsrechts.

30bb) Durch die zwingenden Vorgaben hinsichtlich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall werden offensichtlich weder das Selbstverständnis der Kirchen noch die verfassungsrechtlich geschützte Eigenart des kirchlichen Dienstes berührt. Es ist nicht ersichtlich und von der Revision auch nicht näher ausgeführt, dass und ggf. wieweit die gesetzliche Ausgestaltung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall die Katholische Kirche in Deutschland und die ihr zugeordneten Einrichtungen in ihrer dem Selbstbestimmungsrecht zuzuordnenden Grundentscheidung darüber beschränkt, welche Dienste es bei ihnen geben soll und in welchen Rechtsformen sie wahrzunehmen sind. Ebenso wenig ist erkennbar, dass die uneingeschränkte Bindung kirchlicher Einrichtungen, für die die maßgeblichen arbeitsrechtlichen Regelungen auf dem Dritten Weg gefunden werden, an die Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes die Grundentscheidung der katholischen Kirche für die Rechtsfindung auf diesem Weg in Frage stellt (zur Gewährleistung dieses Wegs durch Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV  - Rn. 19). Schließlich ist nicht ersichtlich, inwieweit der Beklagten durch die in § 4 EFZG angeordnete Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall die Erfüllung der von ihr übernommenen Aufgaben erschwert wird.

31cc) Diese Bindung der den AVR Caritas unterfallenden kirchlichen Einrichtungen und Träger begründet auch keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber ist nach dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot nicht verpflichtet, den Kirchen gleichermaßen wie den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit zu eröffnen, von § 4 Abs. 1, Abs. 1a und Abs. 3 EFZG zu Ungunsten der Arbeitnehmer abzuweichen. Letztlich ist es eine (rechts)politische und keine verfassungsrechtlich präjudizierte Entscheidung des Gesetzgebers, ob und in welchen Regelungsbereichen er die auf dem Dritten Weg zustande gekommenen Regelungen bei der Befugnis, von gesetzlichen Vorgaben abzuweichen, mit Tarifverträgen gleichstellen will. Diese Entscheidung unterliegt lediglich einer Willkürkontrolle (vgl.  - Rn. 49, BAGE 130, 146). Dieser Kontrolle hält § 4 Abs. 4 EFZG stand. Diese Regelung hält sich im Rahmen des dem Gesetzgeber nach Art. 3 Abs. 1 GG zustehenden Gestaltungsspielraums. Ein im kirchlichen Selbstbestimmungsrecht wurzelndes Bedürfnis, zu Lasten der Arbeitnehmer von den zwingenden Vorgaben des § 4 EFZG abzuweichen, ist nicht erkennbar. Vielmehr ist die Bindung an die gesetzlichen Vorgaben die Folge der Entscheidung, Dienstverhältnisse mittels der privatautonomen Gestaltungsform des Arbeitsvertrags zu regeln, die die Geltung des zwingenden Arbeitnehmerschutzrechts zur Konsequenz hat.

32III. Das Landesarbeitsgericht hat bisher lediglich festgestellt, dass die Beklagte für den Kläger ein Arbeitszeitkonto führt. Hiervon ausgehend hat es allerdings rechtsfehlerhaft nicht geprüft, auf der Grundlage welcher Regelungen dies erfolgt und ob diese eine Buchung des Bereitschaftsdienstentgelts als Zeitgutschrift überhaupt zulassen. Auch die vom Kläger vorgelegten Ausdrucke helfen insoweit nicht weiter. Aus ihnen kann ebenfalls nur auf das Bestehen eines Arbeitszeitkontos, aber nicht auf den Inhalt der diesem zugrundeliegenden Abrede geschlossen werden.

331. Sofern es sich bei dem unstreitig bestehenden Arbeitszeitkonto um ein Konto nach § 9 der Anlage 31 AVR Caritas handelt, wäre eine Buchung des Bereitschaftsdienstentgelts als Zeit auf diesem nicht möglich und die Klage deshalb abzuweisen.

34a) § 9 Abs. 3 der Anlage 31 AVR Caritas legt die auf dem Arbeitszeitkonto buchbaren Zeiten abschließend fest (dazu Beyer in Beyer/Papenheim Arbeitsrecht der Caritas Anlagen 31/32 § 9 Stand 2003 [Grundwerk] Rn. 6 ff.). Dies sind neben den hier nicht im Streit stehenden, in Satz 1 dieser Vorschrift genannten Zeiten gemäß Satz 2 Bereitschaftsdienstentgelte nur dann, wenn diese durch Dienstvereinbarung zur Buchung freigegeben sind. Der Kläger hat nicht behauptet, dass es eine derartige Dienstvereinbarung gibt. Zudem gibt die Regelung nur das Entgelt als solches zur Buchung frei, nicht jedoch die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Das ist zulässig, da das Entgeltfortzahlungsgesetz selbst dem Arbeitnehmer zwar das Arbeitsentgelt, nicht aber auch die Möglichkeit, dieses in Freizeit umzuwandeln, sichert. Schließlich hat sich der Kläger auch nicht darauf berufen, dass unter Berücksichtigung der krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienste am Ende des Durchschnittszeitraums (§ 2 Abs. 2 der Anlage 31 AVR Caritas) zu verbuchende Zeitguthaben verblieben seien.

35b) Aus dem Umstand, dass der Kläger nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts als Bereitschaftsdienstentgelt gemäß § 7 Abs. 6 der Anlage 31 AVR Caritas den Freizeitausgleich „gewählt“ hat, folgt nichts anderes. Dies besagt nur, dass der Mitarbeiter an einem anderen Tag innerhalb von drei Kalendermonaten bezahlt von der Arbeit freizustellen ist. Eine Gutschrift von Stunden auf dem Arbeitszeitkonto (die der Mitarbeiter dann zu einem späteren Zeitpunkt einbringen kann) ist damit nicht verbunden. Im Übrigen ist gemäß § 7 Abs. 6 Satz 5 der Anlage 31 AVR Caritas nach Ablauf von drei Monaten zwingend das Bereitschaftsdienstentgelt zu zahlen. Eine Zeitgutschrift schiede daher vorliegend aus.

362. Sofern die Parteien eine andere (individuelle) Abrede über die Führung eines Arbeitszeitkontos getroffen haben sollten, wäre deren Inhalt maßgebend für die Frage, wie das Arbeitszeitkonto ausgestaltet ist und insbesondere, welche Vergütungsbestandteile als Zeit auf diesem verbucht werden können. Feststellungen dazu hat das Landesarbeitsgericht jedoch bisher nicht getroffen.

373. Da die vorstehenden Überlegungen bisher weder von den Parteien noch den Vorinstanzen thematisiert worden sind, ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 103 Abs. 1 GG, vgl.  - Rn. 29; - 5 AZR 474/21 - Rn. 40; - 9 AZR 133/21 - Rn. 24; - 6 AZR 702/19 - Rn. 37, BAGE 174, 63; - 6 AZR 84/18 - Rn. 30; generell zum verfassungsrechtlichen Gebot eines fairen Verfahrens  - Rn. 7 ff.;  - Rn. 27, BAGE 172, 186) gebietet es, dem Kläger im fortgesetzten Berufungsverfahren die Möglichkeit zu eröffnen, zu der dem Arbeitszeitkonto zugrundeliegenden Vereinbarung sowie ggf. zu einer bestehenden Dienstvereinbarung iSd. § 9 Abs. 3 der Anlage 31 AVR Caritas ergänzende Ausführungen zu machen. Ebenso ist der Beklagten Gelegenheit zur Erwiderung zu geben.

38IV. Bei der neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht zudem zu prüfen haben, in welchem Umfang die Beklagte für die Tage der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit an den Kläger dessen Dienstbezüge sowie einen Aufschlag nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR Caritas gezahlt hat und dadurch - unter Berücksichtigung des seitens der Beklagten gewährten und vom Kläger bei seiner Klageforderung berücksichtigten Freizeitausgleichs von jeweils acht Stunden für den sowie den  - die von ihm geforderte weitere Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (teilweise) erfüllt sein könnte.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:051023.U.6AZR210.22.0

Fundstelle(n):
BB 2024 S. 371 Nr. 7
NJW 2024 S. 852 Nr. 12
NAAAJ-57517