BVerwG Urteil v. - 5 C 3/17

Anrechnung von Betreuungsleistungen auf Kostenbeitrag

Leitsatz

Tatsächliche Betreuungsleistungen über Tag und Nacht sind gemäß § 94 Abs. 4 SGB VIII (juris: SGB 8) auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes (§ 94 Abs. 3 SGB VIII) anzurechnen.

Gesetze: § 93 Abs 1 SGB 8, § 94 Abs 3 SGB 8, § 94 Abs 4 SGB 8

Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 12 S 870/15 Urteilvorgehend Az: 8 K 1818/14 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin wendet sich gegen ihre Heranziehung zu einem Kostenbeitrag in voller Höhe des Kindergeldes.

2Die Beklagte gewährte dem Sohn der Klägerin mit Bescheid vom Eingliederungshilfe in Form der Heimerziehung mit Beschulung. Weil das Internat, in dem der Sohn untergebracht ist, an Wochenenden und in den Schulferien geschlossen ist, verbringt er diese Zeit bei der Klägerin oder seinem von dieser getrennt lebenden Vater.

3Mit - nicht streitgegenständlichem - Kostenbeitragsbescheid vom setzte die Beklagte gegenüber der Klägerin ab einen aus ihrem Einkommen zu zahlenden monatlichen Kostenbeitrag in Höhe von 50 € fest, den sie gemäß § 94 Abs. 4 SGB VIII um 40 % (20 €) kürzte, weil sich der Sohn der Klägerin an den Wochenenden und in den Schulferien mindestens 175 Tage im Jahr bei dieser aufhalte.

4Mit weiterem - streitgegenständlichen - Bescheid vom hatte die Beklagte bereits ab unter Hinweis auf § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII und ohne Anrechnung von Betreuungsleistungen einen (weiteren) Kostenbeitrag in Höhe des der Klägerin für ihren Sohn gewährten Kindergeldes von 184 € monatlich festgesetzt.

5Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren mit dem Ziel der Aufhebung des Kostenbeitragsbescheides erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Dieses Urteil änderte das Berufungsgericht teilweise ab. Unter Klageabweisung im Übrigen hob es den Kostenbeitragsbescheid der Beklagten vom sowie deren Widerspruchsbescheid vom auf, soweit für den Monat März 2014 ein Kostenbeitrag von mehr als 112,77 €, für den Monat April 2014 von mehr als 85,87 € und für den Zeitraum vom 1. Mai bis von mehr als 94,97 € festgesetzt wurde.

6Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten, mit der sie geltend macht, Wortlaut und Gesetzessystematik schlössen ein Verständnis des § 94 Abs. 4 SGB VIII nicht aus, dass sich die Vorschrift nur auf den Kostenbeitrag aus Einkommen beziehe. Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Schaffung eines eigenen Kostenbeitrags in Höhe des Kindergeldes sprächen hingegen für diese Sichtweise. Der öffentliche Jugendhilfeträger trage nicht unerhebliche Teile des Lebensunterhaltes auch für die Wochenenden, sodass nur wenige vom Jugendhilfeträger nicht gedeckte Kosten übrig blieben. Schließlich liefen die Kosten für die stationäre Unterbringung beim Jugendhilfeträger weiter. Eine ungeschmälerte Kostenbeitragspflicht sei auch unter dem Gesichtspunkt der Einnahmesicherung erforderlich.

7Die Klägerin und der Vertreter des Bundesinteresses verteidigen das angefochtene Urteil.

Gründe

8Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierauf verzichtet haben (§ 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 141 Satz 1 VwGO).

9Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat den Kostenbeitragsbescheid der Beklagten vom in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom zu Recht teilweise aufgehoben. Es ist im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) davon ausgegangen, dass auf den gemäß § 94 Abs. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 2022), für den hier relevanten Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz - KJVVG) vom (BGBl. I S. 3464), in Höhe des Kindergeldes zu zahlenden Kostenbeitrag die tatsächliche Betreuungsleistung über Tag und Nacht gemäß § 94 Abs. 4 SGB VIII anzurechnen ist.

10Rechtsgrundlage des angefochtenen Kostenbeitragsbescheides sind - wie das Berufungsurteil zutreffend ausführt - § 10 Abs. 2 Satz 1, § 91 Abs. 1 Nr. 6, § 92 Abs. 1 Nr. 5 und § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass die Klägerin nach diesen Regelungen kostenbeitragspflichtig ist. Da sie Kindergeld bezieht, das kein Teil des Einkommens ist (§ 93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII), muss sie neben dem Kostenbeitrag aus Einkommen einen weiteren - hier allein streitbefangenen - Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes gemäß § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zahlen.

11Die von der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum erbrachten Betreuungsleistungen, die über bloße Umgangskontakte hinausgehen, sind auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes anzurechnen. Gemäß § 94 Abs. 4 SGB VIII ist in Fällen, in denen Leistungen über Tag und Nacht erbracht werden und sich der junge Mensch nicht nur im Rahmen von Umgangskontakten bei einem Kostenbeitragspflichtigen aufhält, die tatsächliche Betreuungsleistung über Tag und Nacht auf den Kostenbeitrag anzurechnen. Die Voraussetzungen dieser Anrechnungsvorschrift liegen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts und auch nach Auffassung der Klägerin sowie der Beklagten vor. Diese streiten allein darüber, ob die Anrechnungsvorschrift auch auf den in Höhe des Kindergeldes zu erbringenden Kostenbeitrag anzuwenden ist. Dies ist nach dem Wortlaut der Vorschrift (1.), ihrer Systematik (2.) und der Entstehungsgeschichte (3.) sowie Sinn und Zweck des Gesetzes (4.) zu bejahen.

121. Der Wortlaut des § 94 Abs. 4 SGB VIII erlaubt das Verständnis, dass sich die angeordnete Anrechnung tatsächlicher Betreuungsleistungen sowohl auf den Kostenbeitrag aus Einkommen (§ 94 Abs. 1 und 2 SGB VIII) als auch auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes (§ 94 Abs. 3 SGB VIII) bezieht. Danach ist die tatsächliche Betreuungsleistung über Tag und Nacht "auf den Kostenbeitrag" anzurechnen. Die Vorschrift differenziert nicht zwischen den beiden Kostenbeitragsarten, sondern spricht einheitlich und im Singular von "dem" Kostenbeitrag. Damit kann sie sich ihrem Wortlaut nach sowohl auf den Kostenbeitrag aus Einkommen als auch auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes beziehen. Hierfür ist die Verwendung des Plurals nicht erforderlich. Die Verwendung des Singulars deutet nicht darauf hin, dass Bezugspunkt der Anrechnungsvorschrift nur ein Kostenbeitrag (nämlich der aus Einkommen) wäre. Insoweit ist zunächst in tatsächlicher Hinsicht zu berücksichtigen, dass es keineswegs zwingend ist, dass gegenüber dem das Kindergeld beziehenden Elternteil zwei Kostenbeiträge festgesetzt werden. Denkbar ist vielmehr auch, dass mangels ausreichenden eigenen Einkommens des Elternteils nur der Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes festgesetzt werden kann. Entscheidend ist aber etwas anderes: Jeder Kostenbeitrag ist - wie es auch hier geschehen ist - durch gesonderten Verwaltungsakt eigenständig geltend zu machen (Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, § 94 Rn. 13, Stand August 2017), sodass jede dieser Regelungen nur einen Kostenbeitrag, nämlich den aus Einkommen oder den in Höhe des Kindergeldes, zum Gegenstand hat. Es ist daher durchaus folgerichtig, dass sich auch die Anrechnungsvorschrift des § 94 Abs. 4 SGB VIII nur auf jeweils einen ("den") Kostenbeitrag bezieht. Hinzu kommt, dass die Verwendung des Plurals ein offenkundig nicht gemeintes Normverständnis ermöglichte, wonach die tatsächlichen Betreuungsleistungen nur bei der Heranziehung zu zwei Kostenbeiträgen anzurechnen wären und damit der Elternteil ausgeschlossen wäre, der nur den Kostenbeitrag aus Einkommen aufbringt.

13Angesichts dieser Offenheit des Wortlauts sowie unter Berücksichtigung nachstehender Erwägungen kommt dem Umstand, dass § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII von einem "in Höhe des Kindergeldes" zu zahlenden Kostenbeitrag spricht, nicht die Bedeutung zu, dass die Höhe des Kostenbeitrags unveränderlich in Höhe des Kindergeldes feststünde.

142. In systematischer Hinsicht weist die Stellung der Anrechnungsvorschrift des § 94 Abs. 4 SGB VIII darauf hin, dass sie sich auf beide in den vorangehenden Absätzen geregelten Kostenbeiträge aus Einkommen und in Höhe des Kindergeldes bezieht und deshalb auch auf beide Kostenbeitragsarten anzuwenden ist. Die in diesem Zusammenhang nicht näher konkretisierten Mutmaßungen der Beklagten über die Regelungstechnik des Gesetzgebers greifen nicht durch, zumal der Anwendungsbereich des § 94 Abs. 4 SGB VIII durch bloßen Verweis auf die Absätze 1 und 2 leicht auf diesen Kostenbeitrag hätte beschränkt werden können.

153. Die Entstehungsgeschichte der maßgeblichen Normen unterstützt den sich aus Wortlaut und Systematik ergebenden Befund. Die §§ 91 bis 94 SGB VIII haben ihre heutige Ausgestaltung im Wesentlichen erstmals durch Art. 1 Nr. 49 des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vom (BGBl. I S. 2729) erhalten. § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der seinerzeitigen Fassung bestimmte, dass die Kostenbeitragspflichtigen aus ihrem Einkommen in angemessenem Umfang zu den Kosten heranzuziehen waren. Was als Einkommen im Sinne des Gesetzes anzusehen war, bestimmte § 93 Abs. 1 SGB VIII a.F. Dazu zählte auch das Kindergeld, wie sich der Gesetzeshistorie eindeutig entnehmen lässt. Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung sah eine Novellierung unter anderem der Vorschriften über Kostenbeiträge in der Kinder- und Jugendhilfe als Bestandteil eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vor (BT-Drs. 15/3676). § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zählte nach Art. 1 Nr. 46 dieses Gesetzentwurfs zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme genau bezeichneter Einkünfte, darunter das Kindergeld, das folglich kein Einkommen im Sinne des Gesetzes sein sollte. Im Verlauf der Gesetzesberatungen wurde ein Teil des Gesetzentwurfs abgetrennt und abschließend beraten. Der verbleibende Teil des Gesetzentwurfs wurde als Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe weiter beraten. Nach der Gesetz gewordenen Beschlussempfehlung des federführenden Bundestagsausschusses in Art. 1 Nr. 49 gehören nach § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme genau bezeichneter Einkünfte, wobei die im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehene Ausnahme zugunsten des Kindergeldes entfallen ist, das folglich Bestandteil des Einkommens ist. Dies entspricht dem in der Begründung der Beschlussempfehlung zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willen (BT-Drs. 15/5616 S. 27). Ergänzt wurde diese Regelung durch die (allerdings auch schon im ursprünglichen Gesetzentwurf <BT-Drs. 15/3676 S. 17> vorgesehene) Bestimmung des § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. Danach war der Kostenbeitrag mindestens in Höhe des Kindergeldes zu zahlen, wenn Leistungen über Tag und Nacht außerhalb des Elternhauses erbracht wurden und einer der Elternteile Kindergeld für den jungen Menschen bezog (Mindestkostenbeitrag). Die Abschöpfung des Kindergeldes ist sachlich gerechtfertigt, weil im Rahmen der (vollstationären) Hilfe auch der notwendige Unterhalt des jungen Menschen sichergestellt wird und die Eltern insoweit entlastet werden ( 5 C 21.14 - BVerwGE 153, 150 Rn. 21). Aufgrund der Beschlussempfehlung des federführenden Bundestagsausschusses (BT-Drs. 15/5616 S. 14 und 28) wurde die im Gesetzentwurf (BT-Drs. 15/3676) noch nicht vorgesehene Anrechnungsvorschrift des § 94 Abs. 4 SGB VIII eingefügt. Sie bestimmt mit bis heute unverändertem Inhalt, dass die tatsächlichen Betreuungsleistungen über Tag und Nacht auf den Kostenbeitrag anzurechnen sind, wenn Leistungen über Tag und Nacht erbracht werden und der junge Mensch sich nicht nur im Rahmen von Umgangskontakten bei einem Kostenbeitragspflichtigen aufhält. Demnach waren nach Maßgabe des § 94 Abs. 4 SGB VIII die tatsächlichen Betreuungsleistungen auf den Kostenbeitrag anzurechnen, der unter Berücksichtigung des Kindergeldes als Bestandteil des Einkommens ermittelt wurde.

16Art. 1 Nr. 10 Buchst. a des KJVVG änderte mit Wirkung vom den § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII dahingehend, dass nunmehr der Elternteil, der das Kindergeld bezieht, einen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes unabhängig von seiner Heranziehung zu einem Kostenbeitrag aus Einkommen zu zahlen hat. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drs. 17/13023 S. 10 und 15) sollen zwei voneinander unabhängige Kostenbeiträge im Interesse einer gerechteren Kostenverteilung zwischen den kostenbeitragspflichtigen Elternteilen erhoben werden. Bisher musste der Elternteil, der kein Kindergeld bezogen hat, den Kostenbeitrag in voller Höhe aus seinem Einkommen zahlen. Demgegenüber musste der das Kindergeld beziehende Elternteil das Kindergeld und die Differenz zum Kostenbeitrag leisten. Kindergeldbezieher waren somit gegenüber den Nichtkindergeldbeziehern privilegiert, da sie aus ihrem Einkommen insgesamt weniger bezahlen mussten. Zum Ausgleich für den neuen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes wurde die Zusammensetzung des für die Kostenheranziehung maßgeblichen Einkommens geändert, indem das Kindergeld nicht mehr Bestandteil des Einkommens ist (§ 93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII).

17Ausschlaggebend für die Aufspaltung des Kostenbeitrags in einen solchen aus Einkommen und einen in Höhe des Kindergeldes war demnach allein der Gedanke größerer Belastungsgerechtigkeit zwischen den Eltern. Hingegen spielte es in den Überlegungen des Gesetzgebers keine Rolle, dass die tatsächlichen Betreuungsleistungen eines Elternteils bei dem Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes nicht mehr berücksichtigt werden sollten.

18Erbringt ausschließlich der das Kindergeld beziehende Elternteil tatsächliche Betreuungsleistungen der in § 94 Abs. 4 SGB VIII genannten Art, ist deren Anrechnung auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes unproblematisch. In diesen Fällen gibt der Gesichtspunkt der Belastungsgerechtigkeit keinen Anlass, die Anrechnung in Frage zu stellen. Im - wahrscheinlich seltenen - umgekehrten Fall, in dem ausschließlich der nichtkindergeldbeziehende Elternteil tatsächliche Betreuungsleistungen erbringt, hat der andere Elternteil einen ungeschmälerten Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes zu zahlen; der betreuende Elternteil kann aber nach Maßgabe des § 64 Abs. 2 bzw. 3 EStG die Zahlung des Kindergeldes an sich selbst verlangen. Aber auch wenn beide Elternteile in einem Fall der vollstationären Unterbringung des jungen Menschen über bloße Umgangskontakte hinaus zusätzliche Betreuung im sog. Wechselmodell erbringen, erfordert der Gedanke der Belastungsgerechtigkeit kein Absehen von einer Anrechnung der Betreuungsleistungen auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes, selbst wenn hierin eine gewisse Bevorteilung des kindergeldbeziehenden Elternteils liegen sollte. Während die Privilegierung des kindergeldbeziehenden Elternteils, die darin lag, dass er den Kostenbeitrag jedenfalls zu einem erheblichen Teil aus dem Kindergeld bestreiten konnte, nach alter Rechtslage zwangsläufig immer auftrat, kommt es zu seiner Bevorteilung nach aktueller Rechtslage nur dann, wenn auch dieser Elternteil selbst Betreuungsleistungen erbringt. Maßgebliche Ursache dieser Bevorteilung ist nicht die Anrechnung der Betreuungsleistung als solche, sondern bereits der Umstand, dass das Kindergeld gemäß § 64 Abs. 1 EStG nur einem Berechtigten gezahlt werden kann, der hierdurch ganz unabhängig von jugendhilferechtlicher Leistungsgewährung und der nachfolgenden Heranziehung zu einem Kostenbeitrag gegenüber dem anderen Elternteil privilegiert wird. Die Regelung des § 64 Abs. 1 EStG ist, wie der Bundesfinanzhof wiederholt entschieden hat, verfassungsgemäß (BFH, Beschlüsse vom - VIII R 106/03 - BFHE 208, 220 <224 f.> sowie vom - XI S 25/11 (PKH) - BFH/NV 2012, 1133 Rn. 12 und zugehörigem Nichtannahmebeschluss des - juris). Der Ausgleich zwischen den Eltern erfolgt nicht öffentlich-rechtlich im Steuer- oder Sozialrecht, sondern zivilrechtlich durch einen familienrechtlichen Ausgleichsanspruch (Klinkhammer, in: Staudinger, BGB, Stand 2018, § 1612b Rn. 42). Der Elternteil, der kein Kindergeld erhält, hat gegen den anderen, das Kindergeld beziehenden Elternteil aus dem Gesichtspunkt des familienrechtlichen Ausgleichsanspruchs einen Anspruch auf anteilige Auszahlung des Kindergeldes ( - NJW 2016, 1956 Rn. 10 ff.).

19Dass sich die Anrechnung tatsächlicher Betreuungsleistungen nach § 94 Abs. 4 SGB VIII ursprünglich allein auf den Kostenbeitrag aus Einkommen bezog, belegt nicht, dass sie sich nach aktuellem Recht nicht auch auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes erstreckt. Dies war ausschließlich dem Nichtvorhandensein eines anderen Kostenbeitrags und dem Umstand geschuldet, dass das Kindergeld nach alter Rechtslage Bestandteil des Einkommens war. Die Gesetzesmaterialien bieten keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes von der Anrechnung ausnehmen wollte.

20Die von der Beklagten angeführte geringere Kostenbeitragsbelastung nach neuem im Verhältnis zu altem Recht sagt ebenfalls nichts über die hier inmitten stehende Frage aus. Sie ist schon thematisch nicht einschlägig. Darüber hinaus beruht die unterschiedliche Kostenbeitragsbelastung nicht auf der Anrechnungsvorschrift des § 94 Abs. 4 SGB VIII, sondern maßgeblich auf der auf der Grundlage von § 94 Abs. 5 SGB VIII erlassenen Kostenbeitragsverordnung und ihrer 2013 erfolgten Änderung (BGBl. I S. 4040). Ferner lag die von der Beklagten angeführte Entlastung geringerer Einkommen in der Intention des Gesetzgebers (BT-Drs. 17/13023 S. 10).

214. Sinn und Zweck des § 94 Abs. 4 SGB VIII bestätigen und vertiefen das bisherige Auslegungsergebnis. Die Vorschrift soll den Kostenbeitrag daran anpassen, dass zwar vollstationäre Leistungen erbracht werden, gleichzeitig jedoch vorgesehen ist, dass der junge Mensch sich regelmäßig über Tag und Nacht bei seinen Eltern oder anderen kostenbeitragspflichtigen Personen aufhält (BT-Drs. 15/5616 S. 28). Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass dem Elternteil, der den jungen Menschen neben dessen vollstationärer Unterbringung tatsächlich über bloße Umgangskontakte hinaus betreut, Aufwendungen entstehen, die er ohne Doppelbelastung durch Heranziehung zu einem Kostenbeitrag bestreiten können muss.

22Diesem Zweck entspricht es, derartige Betreuungsleistungen auch auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes anzurechnen. Wie das Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom - 5 C 25.97 - BVerwGE 108, 221 <224> dargelegt hat, dient das Kindergeld dazu, die in der Person des Kindes entstehenden Kosten der allgemeinen Lebensführung mindestens teilweise zu decken und zur Entlastung von den Kosten des Lebensunterhalts beizutragen. Im Urteil vom - 5 C 10.10 - (BVerwGE 139, 386 Rn. 14 bis 16) hat das Bundesverwaltungsgericht dies folgendermaßen konkretisiert: Nach der dem Familienleistungsausgleich dienenden Vorschrift des § 31 Satz 1 EStG wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung entweder durch die (in § 32 EStG geregelten) Freibeträge oder durch das Kindergeld bewirkt. Soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Die Leistung des Kindergeldes ist damit nicht zweckneutral; vielmehr wird schon ausweislich des Wortlauts der vorbezeichneten Regelungen unmissverständlich klargestellt, dass das Kindergeld bei einkommensteuerpflichtigen Eltern in erster Linie dazu bestimmt ist, die Familie zu entlasten und das Existenzminimum des Kindes einschließlich des Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsaufwands (steuerlich) zu verschonen. Das Kindergeld ist danach eine den Eltern zufließende, aber für das jeweilige Kind bestimmte Leistung. Eine solche Zwecksetzung hat das Bundesverwaltungsgericht bereits zu den früher geltenden Regelungen des Kindergeldrechts angenommen und den Zweck des Kindergeldes in ständiger Rechtsprechung dahin charakterisiert, dass es dazu dient, die in der Person des Kindes entstehenden Kosten der allgemeinen Lebensführung mindestens teilweise zu decken und zur Entlastung von den Kosten des Lebensunterhalts beizutragen. Die vorgenannte ausdrückliche Zwecksetzung des Kindergeldes und insbesondere seine personale Zuordnung werden durch eine systematische Betrachtung der heutigen Gesetzeslage in weiteren Bereichen, in denen der Gesetzgeber Bestimmungen über das Kindergeld getroffen hat, bestätigt. Der Regierungsentwurf zur Novellierung der unterhaltsrechtlichen Regelung des § 1612b BGB hebt in seiner Begründung ausdrücklich hervor, es bestehe nunmehr Einigkeit darüber, "dass das Kindergeld im wirtschaftlichen Ergebnis dem Kind zusteht und dazu bestimmt ist, dessen Existenzminimum zu sichern" (BT-Drs. 16/1830 S. 29 unter Hinweis auf , 1 BvR 1749/01 - BVerfGE 108, 52 <69 ff.>). Die nach Maßgabe des Regierungsentwurfs Gesetz gewordene Neuregelung des § 1612b Abs. 1 BGB (i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts vom , BGBl. I S. 3189) bestimmt deshalb ausdrücklich, dass "das auf das Kind entfallende Kindergeld ... zur Deckung seines Barbedarfs zu verwenden" ist. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass das Kindergeld in treuhänderischer Gebundenheit wirtschaftlich dem Kind zusteht. Mit der Neuregelung soll nach der Vorstellung des Gesetzgebers "die unterhaltsrechtliche Funktion des Kindergelds, den Bedarf des Kindes zu decken", "klar zum Ausdruck" kommen und gleichzeitig sollen "die zivilrechtlichen Bestimmungen in Einklang mit den sozialrechtlichen Grundentscheidungen gebracht" werden (BT-Drs. 16/1830 S. 29). Im Sozialrecht wird nämlich nach heutiger Gesetzeslage das Kindergeld für minderjährige Kinder unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II bzw. des § 82 Abs. 1 Satz 3 SGB XII dem jeweiligen Kind als Einkommen zugerechnet mit der Folge, dass der individuelle Hilfebedarf entsprechend gemindert ist (BT-Drs. 16/1830 S. 29). Dem liegt ebenfalls die gesetzgeberische Wertung zugrunde, dass das Kindergeld - auch wenn es an die Kindergeldberechtigten (d.h. insbesondere an die Eltern) ausgezahlt wird und diese darüber verfügen können - grundsätzlich dem jeweiligen Kind zugutekommen soll und für seinen Bedarf bestimmt ist.

23Einer Anrechnung tatsächlicher Betreuungsleistungen auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes steht nicht entgegen, dass dem Jugendhilfeträger auch für die Zeiten, in denen ein Elternteil die Betreuung des jungen Menschen gewährleistet, Aufwendungen z.B. in Form von Fahrtkosten und Taschengeld sowie von Vorhaltekosten für die Aufrechterhaltung der Möglichkeit einer vollstationären Unterbringung entstehen können. Die Abschöpfung des Kindergeldes ist zwar - wie bereits erwähnt - sachlich gerechtfertigt, weil im Rahmen der (vollstationären) Hilfe auch der notwendige Unterhalt des jungen Menschen sichergestellt wird und die Eltern insoweit entlastet werden ( 5 C 21.14 - BVerwGE 153, 150 Rn. 21). Dieser Gedanke trägt aber nicht, soweit neben einer werktäglichen vollstationären Unterbringung ein Elternteil - wie hier - an den Wochenenden selbst die Betreuung des jungen Menschen wahrnimmt. Hierdurch entstehen regelmäßig Aufwendungen, zu denen neben solchen für Verköstigung bei typisierender Betrachtung regelmäßig auch Kosten z.B. für das Vorhalten angemessenen Wohnraums und seiner Ausstattung gehören. Die Anrechnung der Betreuungsleistungen auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes führt dazu, dass dieses seine ursprüngliche Zweckbestimmung des Familienleistungsausgleichs erfüllt, und stellt sich damit nicht als eine ungerechtfertigte doppelte Förderung aus öffentlichen Kassen dar. Sie entspricht der in § 94 Abs. 4 SGB VIII zum Ausdruck gebrachten Entscheidung des Gesetzes, dass dem Interesse des Kostenbeitragspflichtigen, die Betreuung des jungen Menschen auch in finanzieller Hinsicht bewältigen zu können, Vorrang zukommt vor dem Interesse des Jugendhilfeträgers, seine Aufwendungen über die Erhebung von Kostenbeiträgen (jedenfalls teilweise) zu refinanzieren.

24Gegen den Umfang der Anrechnung der tatsächlichen Betreuungsleistungen und die damit korrespondierende teilweise Aufhebung des Kostenbeitragsbescheides in der Fassung des zugehörigen Widerspruchsbescheides im konkreten Fall hat die Beklagte keine Einwände vorgebracht. Solche sind auch nicht ersichtlich.

25Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2018:260618U5C3.17.0

Fundstelle(n):
HFR 2018 S. 913 Nr. 11
LAAAG-93051