Besitzen Sie diesen Inhalt bereits, melden Sie sich an.
oder schalten Sie Ihr Produkt zur digitalen Nutzung frei.

Dokumentvorschau
WP Praxis Nr. 3 vom Seite 82

Gewagter Vergleich: Wirecard-Jahresabschluss gegenüber Dieselgate

Die aktuellen Hinweisbeschlüsse des OLG München

RA Dr. Philipp Fölsing

Das OLG München vergleicht die Rolle des Wirecard-Jahresabschlussprüfers mit dem Dieselskandal. Ob die vorsätzlich-sittenwidrige Schädigung im Verschweigen einer unzulässigen Abschalteinrichtung durch den Hersteller oder in einer – unterstellt – „gewissenlosen“ Abschlussprüfung durch einen Wirtschaftsprüfer besteht, könne, so das Gericht, keinen Unterschied machen. Dieser in einer Pressemitteilung verbreitete Vergleich ist gewagt. Er scheint sich zumindest auch an die Öffentlichkeit zu richten und auf deren empörte Reaktion abzuzielen. Im Übrigen macht es schon einen Unterschied, ob ein Automobilhersteller die Abgaswerte vorsätzlich und in Kenntnis der Rechtswidrigkeit durch eine verbotene Abschalteinrichtung manipuliert und dies gegenüber seinen Kunden und gegenüber dem Kapitalmarkt bewusst verschweigt oder ob ein Abschlussprüfer fahrlässig, ggf. vielleicht sogar grob-fahrlässig bis hin zu leichtfertig, unzureichende Prüfungshandlungen vornimmt, aber selbst Opfer des Betrugs seines Prüfungsmandanten wird.

Schmitz/Lorey/Harder, Berufsrecht und Haftung der Wirtschaftsprüfer, 3. Aufl. 2022, NWB PAAAI-01812

Kernaussagen
  • Die in § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Intention, den Adressatenkreis der Haftung des Abschlussprüfers zu begrenzen, gilt sowohl bei vertraglichen als auch bei gesetzlichen Anspruchsgrundlagen. Die durch das FISG beibehaltene und dadurch sogar noch einmal betonte Grundentscheidung des Gesetzgebers ist deshalb auch und gerade im Rahmen der deliktischen Prüferhaftung zu berücksichtigen.

  • Ein Anscheinsbeweis zugunsten geschädigter Anleger kommt allenfalls bei prospektgestützten Kaufentscheidungen in Betracht, nicht dagegen bei einem Sekundärerwerb über die Börse. Bei einem Sekundärerwerb über die Börse reicht es auch nicht aus, dass der Anleger den Bestätigungsvermerk des Prüfers tatsächlich gelesen hat. Denn selbst dadurch würde sich eine etwaige Pflichtverletzung des Prüfers nicht, wie von § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB vorausgesetzt, konkret gegen den einzelnen enttäuschten Anleger richten.

  • Eine positive Anlagestimmung des Bestätigungsvermerks kommt selbst im Wirecard-Skandal nicht in Betracht, da Form und Inhalt des Bestätigungsvermerks gesetzlich vorgegeben sind, sich der Bestätigungsvermerk auf die Rechnungslegung des Emittenten insgesamt und nicht wie Ad-hoc-Mitteilungen nur auf einzelne, momentan bedeutsame und für die zukünftige Entwicklung besonders relevante Umstände bezieht und er somit vergangenheitsbezogen ist.

I. Die aktuellen Hinweisbeschlüsse des OLG München

1. Sachverhalt

Wie aus der Pressemitteilung des hervorgeht, hatte die Wirecard AG, ein ehemaliges DAX-30-Unternehmen, mit Ad-hoc-Mitteilung vom darüber informiert, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten i. H. von insgesamt 1,9 Mrd. € mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestünden. Am stellte die Wirecard AG Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Vier Tage später, am , versagte ihre Abschlussprüferin und spätere Beklagte, die seit rund zehn Jahren durchgängig die Abschlüsse des Unternehmens geprüft hatte, den Bestätigungsvermerk für das Jahr 2019. Das Insolvenzverfahren wurde am durch das AG München eröffnet.

Diese Vorgänge hatten einen drastischen Kursverlust der Wirecard-Aktie zur Folge. Zahlreiche Anleger erlitten faktisch einen Totalverlust. Hunderte von ihnen nehmen die Abschlussprüferin wegen ihres Verlusts auf Schadenersatz in Anspruch. Laut der Pressemitteilung des OLG München wies das LG München I zahlreiche dieser Klagen in erster Instanz ohne Beweisaufnahme ab. Es verneinte sowohl die haftungsbegründende Kausalität zwischen den angeblichen Pflichtverletzungen bei der Prüfung der Abschlüsse der Wirecard AG und dem Schaden, der im Erwerb der Wirecard-Aktien begründet S. 83sein sollte, als auch die behauptete haftungsbegründende Pflichtverletzung selbst. Zumindest zwei Berufungssenate des OLG München vertreten eine andere Auffassung und halten eine Haftung der Abschlussprüferin wegen vorsätzlich-sittenwidriger Schädigung gem. § 826 BGB zumindest für möglich.